Raphaela Yamada
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Ein kurzer Überblick und im Anschluß eine Leseprobe

Saramo kann es zunächst nicht glauben.

Er ist der erste Tenidendrachen, dem es nach vielen Generationen der Unterdrückung durch die furchtbaren Orlonen gelingt, wieder Feuer zu speien und der so die uralte Sage von der Befreiung seines Volkes erfüllen soll.

Er ahnt noch nicht, dass er vor dem Kampf gegen die Orlonen zuerst sich selbst besiegen muss.
So begegnet er auf seiner Reise durch den Kontinent Alpaku der tödlichen Gleichgültigkeit, der Gier nach Macht, dem Gefühl der Fremdheit, der Liebe seines Lebens, den Zweifeln an sich selbst, der Bürde des Alters und endlich dem alles entscheidenden Kampf um Leben und Tod.

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LESEPROBE

Prolog

Es war einmal an einem weit entfernten Ort, in einer anderen Zeit, in der die Träume noch frei reisen konnten zwischen den Welten und keine Wissenschaft sie daran hinderte.

Dort lebten einst verschiedene Drachenvölker und andere Wesen auf dem gerade aus den Meeren entstandenen Kontinent Alpaku, den es heute nicht mehr gibt.

Eines der Drachenvölker, die grausamen Orlonen, hatte fast den gesamten Kontinent in seine Gewalt gebracht.

Kapitel I - Die Entscheidung

Haben wir dich endlich, Spogafresser!“, hallte die Stimme des brutalen Zis durch das Wäldchen. Saramo, der kleine Tenidendrache kam gerade vom Spoga sammeln zurück und erstarrte vor Schreck. Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Seine Leibspeise, die gesammelten Spogablätter fielen ihm aus den Krallen.

Als Anführer einer Bande junger orlonischer Drachen liebte es Zis, nur so zum Spaß die körperlich viel kleineren und schwächeren Teniden zu beleidigen und zu schikanieren. Saramo war ihm und seinen Freunden schon oft begegnet. Fast immer hatte er bei diesen unliebsamen Treffen üble Beschimpfungen und häufig peitschende Schwanzhiebe über sich ergehen lassen müssen. In letzter Zeit hatte man allerdings den vagen Eindruck bekommen können, dass sich Zis etwas zurückhielt.

Saramo begann vor Wut zu zittern. Wie schon so oft, fragte er sich, warum er hier leben musste, in Pulsa, dem orlonischen Dorf, an dessen Rand sich seine Familie zusammen mit anderen Teniden niedergelassen hatte. Sie waren zwar keine Sklaven mehr, doch ihr Leben war hart. Sie wohnten in ärmlichen Hütten und trotzten dem schlechten Boden, den man ihnen überlassen hatte, etwas Spoga ab. Er hasste Orlonien, dieses fremde Land, in das man einst seinen Großvater als Sklaven für die Feldarbeit verschleppt hatte. Er hasste auch Zis und seine gemeinen Freunde, die wie alle Orlonen davon überzeugt waren, der höchsten Drachenrasse anzugehören.

Wie gerne hätte er es diesem feigen Großmaul gezeigt, aber er hatte seinem Großvater bei seinem Drachenschwanz schwören müssen, sein Geheimnis für sich zu behalten. Ein solcher Schwur war eine heilige Sache. Es hieß, dass jeder der ihn brach, auf der Stelle seinen Schwanz verlöre. Saramo war mittlerweile groß genug, so etwas nicht mehr all zu ernst zu nehmen, dennoch fühlte er sich an seinen Schwur gebunden.

Hast wohl gedacht, wenn du nur vor deinesgleichen singst, bekommen wir nicht mit, wie du dich über uns lustig machst. Du denkst wohl, wir Orlonen aus Pulsa sind nur blöde Dorfdrachen und zu dumm, deine Beleidigungen zu verstehen.“

Saramo überlegte fieberhaft, was Zis wohl meinte. Nie im Leben wäre es ihm eingefallen diese großen von Natur aus sowieso schon aggressiven Drachen zu provozieren. Die Teniden waren zwar längst keine Sklaven mehr, denn zu viele hatte die schwere Sklavenarbeit auf den orlonischen Feldern in kürzester Zeit dahingerafft, so dass man die wenigen Überlebenden schließlich einfach ihrem Schicksal überlassen hatte, aber es war jedem Teniden klar, dass es tödlich enden konnte, einen Orlonen zu beleidigen. Das galt besonders an einem so sonnigen Tag in der trockenen Zeit. Die Hitze und Trockenheit machte den Orlonen schwer zu schaffen, die geringste Anstrengung ließ sie schwitzen und stöhnen. Eine Kleinigkeit genügte, sie in Rage zu bringen.

Du singst ja gar nicht mehr, Söhnchen einer tenidischen Missgeburt. Hat es dir die Stimme verschlagen?“

Zis klang jetzt eigenartig entfernt, so dass Saramo es schließlich doch wagte, sich langsam umzudrehen. Nur wenige Schritte entfernt, hinter einem Busch war die Bande zu erkennen. Erleichtert stellte er fest, dass sie ihm alle den Rücken zuwandten. Er war gar nicht gemeint. Vorsichtig, darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, duckte er sich hinter dem Busch. Unmittelbar vor Zis stand ein vor Angst zitternder Tenide, den Saramo nicht kannte.

War das vielleicht der fahrende Sänger, von dem alle Teniden im Dorf begeistert erzählt hatten. Wie hatte seine Mutter erzählt: “Fast alle Teniden aus Pulsa waren da. Sein Gesang verzauberte uns mit klugem Spott über die Schreckensherrschaft der Orlonen.“

Es … war … doch … nur ein Lied“, stammelte er.

Komm Zis, lass ihn uns endlich verprügeln“, meldete sich Ogra, Zis´ bester Freund und bewegte sich ein paar Schritte auf den ängstlich Zurückweichenden zu.

Warte!“, befahl Zis und während er einen metallisch glänzenden Gegenstand hervorzog, fuhr er mit gemeinem Lächeln fort:“Ich habe da so eine Idee.“

Saramo kannte Zis seit frühester Kindheit. Der Tonfall seiner letzten Worte ließ Schlimmes erahnen. Da war der noch bis heute ungeklärte Tod von Obridur, dem Nachbardrachen. Sie hatten ihn letztes Jahr gefunden mit schreckgeweitetem Gesicht und furchtbar zugerichtet. Damals war Zis verdächtigt worden und er hatte nichts getan, diesen Verdacht zu zerstreuen. Im Gegenteil, es gefiel ihm, dass man ihm eine solche Tat zutraute und zu befürchten hatte er deshalb ohnehin nichts. Obridur war nur ein toter Tenide.

In Saramos Kopf jagten einander die Gedanken. Er hätte sich einfach weiter versteckt halten können, tun, was er seinem Großvater geschworen hatte, schwören hatte müssen. Einfach abwarten und wenn alles vorbei gewesen wäre, nach Hause schleichen. Noch vor wenigen Monden wäre die Entscheidung leichtgefallen, hätte er sowieso keine Möglichkeit gehabt, einzuschreiten.

Zis fuchtelte jetzt mit einer Ebrazange vor dem bleich gewordenen Teniden herum. Dieses Werkzeug diente eigentlich dazu, die harte Schale der Ebranüsse aufzuknacken.

Buh!“, rief Zis und sprang unvermittelt auf sein Opfer zu, hielt aber im letzten Moment inne.

Noch begriff Saramo nicht, was Zis vorhatte. Sein Atem ging schwer, Angst und Wut drohten ihn zu überwältigen. Wollte er nicht entdeckt werden, musste er sich beruhigen, die Gedanken in eine andere Richtung lenken.

Die Erinnerung überkam ihn plötzlich, als er mit einem Mal wieder zuhause auf dem bequemen Sitzstein vor dem Kamin saß.

Seine Mutter hatte köstlichen Spogatee gekocht und auf dem Herd hatte verführerisch riechende Spogasoße geköchelt. Großvater, der geborene Geschichtenerzähler hatte wie beiläufig Xandru erwähnt, den einäugigen Tenidendrachen, der die magische Kunst des Feuerspeiens beherrschte. Da es streng verboten gewesen war, über diese Kunst zu reden, war es zum Streit gekommen zwischen Großvater und seinem Vater.

Beleidigt war der alte Drache aus dem Haus gegangen, während Saramo ihm hastig gefolgt war, um ihm flüsternd zu erzählen, wie nur wenige Tage zuvor bei einem Sturz über einen Stein eine kleine Flamme aus seiner Schnauze gekommen war.

Großvater hatte nachdenklich den Kopf geschüttelt.

Wer weiß noch davon?“

Niemand, warum?“

Weil du in großer Gefahr bist, wenn auch nur ein Orlone davon erfährt.“

Ich verstehe nicht“

Natürlich verstehst du es nicht. Deine Eltern, überhaupt alle tenidischen Eltern haben ja Angst, ihren Kindern von unserer Geschichte zu erzählen.“

Das ist nicht wahr! Vater hat uns wohl etwas über Tenida und seine Geschichte erzählt.“

Ja, Saramo, das mag schon sein. Nur hat er euch nicht die ganze Geschichte erzählt. Oder weißt du, warum du hier und nicht in Tenida lebst?“

Saramo hatte den Kopf geschüttelt, als ihm eingefallen war, wie sein Vater auf genau jene Frage nie eingegangen war.

Dann muss ich dir wohl diesen Teil unserer Geschichte erzählen“, hatte der Großvater begonnen das traurige Schicksal der Teniden zu schildern.

Wir Teniden waren einst ein großes, reiches Drachenvolk. Jeder hatte genug Spoga zu essen. Kurz es mangelte an nichts. Wir hatten das Feuer, das jedem von uns die gleiche Macht gab. Jeder Tenide und jede Tenidin konnte sich und andere damit verteidigen. So bescherte es uns nicht nur ein schönes Leben, es sicherte auch unsere Freiheit vor allem gegen die aggressiven Orlonen. Unser Feuer war gefürchtet und so wagten sie es nicht, uns anzugreifen. Über viele Jahre hielt sie diese Angst davon ab, in Tenida einzufallen. In der Zwischenzeit hatten sie fast alle Länder rund um Tenida besiegt. Außer uns lebten schließlich nur noch die Quechach in Freiheit. Dieses Volk besitzt eine Giftdrüse am Kopf, die von den Orlonen noch mehr gefürchtet wurde als unser Feuer.

Nachdem außer Quechach und Tenida alles besiegt war, wurde die Gier der Orlonen größer als ihre Angst und sie wagten ihren ersten Angriff auf uns. Es war ein Leichtes, sie mit unseren Feuerstrahlen in die Flucht zu schlagen.“

Die Augen des alten Tenidendrachen hatten bei diesen Worten zu glänzen begonnen und um das Gefühl des Sieges noch etwas länger auskosten zu können, hatte er eine Pause gemacht.

Aber wieso konnten sie uns schließlich besiegen und was wurde aus unserem Feuer?“

Sachte, sachte“, hatte ihn der Großvater zur Geduld ermahnt, hatte noch einmal tief Luft geholt um fortzufahren:

Noch in der Nacht ihrer schmachvollen Niederlage riefen die Orlonen alle Hexen und Zauberer, die ihnen dienten herbei und befahlen ihnen, einen Trank zu brauen, der den Teniden das Feuer rauben sollte. Es dauerte noch viele Monde, aber schließlich gelang es der Hexe Sorti.

Die Orlonen schütteten das Gift von Sorti in unsere Flüsse und Brunnen. Viele von uns wurden krank und starben. Auch meine Eltern, deine Urgroßeltern erlagen ihm.

Die überlebten, hatten von nun an auch ihr Feuer und ihren Schutz verloren. Dann zogen die Orlonen durchs Land. Wen sie nicht töteten, den versklavten und verschleppten sie, so wie mich. Die schönen Zeiten Tenidas waren vorbei. Armut, Sklaverei und jene Krankheit, die uns das Feuer nahm, waren von nun an die Begleiter unseres Volkes.

Das verfluchte Gift von Sorti wirkt noch immer in uns. Es wurde vererbt von Generation zu Generation. Keinem von uns gelang es seither wieder Feuer zu speien.“

Saramo war zutiefst beeindruckt gewesen. Die kleine, zufällig entstandene Flamme war also ein Erbe der Vergangenheit gewesen. Ob er wohl der erste Tenide gewesen war, bei dem die Wirkung des Giftes nachgelassen hatte?

Opa, als ich das Feuerspeien wiederholen wollte, ist mir das nicht gelungen.“

Das ist nur natürlich“, hatte der alte Drachen geantwortet. “Feuerspeien muss man lernen und fleißig üben.“

Könntest du es mir beibringen?“

Saramos Großvater hatte lange mit einer Antwort gezögert: “Es ist zu gefährlich! Die Orlonen würden dich töten, wenn sie davon erführen.“

Enttäuscht ließ Saramo die kleinen Flügel hängen, ein übriggebliebenes Merkmal der Teniden aus jener Zeit, als ihre Urahnen noch fliegen konnten, das heute nur noch Freude oder Trauer signalisierte.

Aber ich kann es nicht kontrollieren. Was, wenn es noch einmal passiert und mich dabei jemand sieht. Das ist doch noch gefährlicher.“

Da hatte der Alte lachen müssen: “Mein schlauer Enkel. Dann muss ich ja wohl.“

So hatten sie gleich am nächsten Tag mit den Übungen begonnen. Es war zu lernen gewesen, wie man während einer bestimmten Art des Luftholens Feuer im Bauch bildete, das dann schnellstmöglich wieder ausgestoßen werden musste, wollte man nicht innerlich verbrennen. Nach einem Mond war es dann endlich soweit gewesen. Saramo war ein kleiner Feuerstrahl entwichen. Seit langer Zeit hatte der alte Drachen das Feuer eines Teniden nicht mehr gesehen. Voller Stolz hatte er Saramo angestarrt und vor Freude laut aufgeschrien während die Tränen in den runzligen Bahnen seiner faltigen Haut heruntergelaufen waren. Saramo selbst hatte nichts sagen können. Endlich war es geschafft.

Von da an hatte er schnell Fortschritte gemacht. Schon bald war es viel zu gefährlich geworden weiter im Haus zu üben. Zum Glück hatte die kalte Jahreszeit begonnen und der ständige Regen hatte dafür gesorgt, dass es bei ihren heimlichen Übungen tief im großen Wald zu keinem Brand gekommen war. Einen Mond später war es ihm zum ersten Mal gelungen trotz der überall herrschenden Feuchtigkeit mit nur einem kurzen Feuerstrahl einen großen Baum in Flammen zu setzen. Er hatte vor Stolz gestrahlt, aber der alte Drachen war seltsam nachdenklich und bedrückt gewesen.

Was hast du? Freust du dich nicht?“

Doch, ich freue mich“, hatte sein Großvater gesagt und danach einen Moment lang geschwiegen.

Ich habe viel nachgedacht über dich und das Feuer. Versprich mir, dein Feuer nicht gegen andere zu richten.“

Was ist schlecht daran, sich damit zur Wehr zu setzen.“

Vergiss nie, du allein hast die Gabe des Feuers wiedererlangt. Die Orlonen dürfen niemals davon erfahren. Es wäre dein sicherer Tod. Egal was passiert, Gewalt ist immer der schlechteste Weg“, hatte ihm der alte Drachen entgegnet, während er im Stillen gehofft hatte, dass Saramo diesen Weg niemals würde beschreiten müssen. Mit einem Ton, der keinen Widerspruch geduldet hatte, war er fortgefahren:

Schwör mir beim Drachenschwanz, niemals dein Feuer gegen andere zu richten.“

Ich schwöre es!“

Los, haltet ihn fest!“, riss ihn Zis´ Stimme aus seinen Gedanken.

Ogra, mach ihm das Maul auf!“

Was habt ihr vor?“, schrie der kleine Tenide, um anschließend vor Schmerz zu wimmern, als ihn Zis´ Freunde ergriffen. Ogra bemühte sich, ihm gewaltsam die Drachenschnauze zu öffnen, was schließlich gelang.

Zis beugte sich nun über sein Opfer:

Du wirst keine Schandlieder mehr singen, wenn wir dir erst die Zunge herausgerissen haben!“

Höhnisch lachend öffnete er die Zange und war im Begriff sie zu benutzen.

Großvater, verzeih mir“, flüsterte Saramo und trat vor den Busch.

Lasst ihn sofort los!“

Sieh da, der mutige Saramo“, wandte sich Zis kurz von seinem Opfer ab. “Willst zuschauen, was gleich passiert?“

Saramos Stimme wurde nun leiser, während er auf sie zu ging und betont langsam wiederholte: “Lasst ihn los!“

Zis´ Gesicht wurde rot: “Was glaubst du, wer du bist! Du kleiner Spogafresser!“

Der leise Ton in Saramos Stimme hatte seine Wut entfacht. Zis rechnete fest damit, dass der kleine Tenide jetzt nachgeben würde. Mehrmals hatte sich dieses Schauspiel in der letzten Zeit ereignet und war nach ungeschriebenen Regeln beendet worden. Immer war es Saramo gewesen, der nachgegeben und Zis am Ende um Entschuldigung gebeten hatte. Immer hatte sich Zis damit zufrieden gegeben, Saramo vor seinen Freunden zu demütigen, um ihn dann großzügig gehen zu lassen.

Diesmal war es anders:

Hör schon auf mit deiner Großtuerei“, sagte Saramo und es schien, als wäre er nicht im Geringsten erregt.

Zis konnte es nicht fassen. Ein Gefühl der Unsicherheit beschlich ihn. Woher nahm dieser kleine Tenide die Ruhe? Wusste er nicht, dass es ihm ein Leichtes sein würde, ihn zu verprügeln oder gar zu töten? Niemand hätte ihn dafür bestraft, einen Teniden umgebracht zu haben.

Zis wusste nicht mehr weiter. Noch nie hatte es einer der Teniden gewagt, ihm zu widersprechen. Und wenn vielleicht doch einmal, dann nicht auf diese Art und Weise ohne jede Angst. Er war sichtlich beunruhigt. Seine Blicke wanderten von einem seiner orlonischen Freunde zum andern.

War da nicht ein hämisches Grinsen auf den Gesichtern zu sehen?

Saramo stand jetzt direkt vor ihm. Überlegenheit spiegelte sich in seinen Augen.

Sahen die anderen diese Überlegenheit auch?

Am liebsten wäre Zis davon gelaufen. Die Gedanken jagten einander in seinem Kopf. Seine Schuppen zitterten.

Wie lange stand er schon so unschlüssig?

Hielten ihn die anderen bereits für einen Feigling?

Noch mehr Schweiß rann über seine Schuppen. “Einen Feigling“, dachte er bei sich. “Sie halten mich für einen Feigling.“ Die Unsicherheit verwandelte sich in Wut. Eine Wut, wie er sie noch nie empfunden hatte. Eine Wut, die ihn nicht mehr länger nachdenken ließ. Eine Wut, zum Töten. Zis’ Gesicht veränderte sich, verzog sich zu einer wilden Fratze. Das Zittern seiner Schuppen wurde stärker. Die anderen Orlonen wichen zurück. Ihr Opfer hatten sie längst losgelassen und der tenidische Sänger ergriff die Gunst der Stunde und lief davon so schnell ihn seine Füße tragen konnten. Alle Blicke richteten sich auf Saramo, den selbst der heftige Wutausbruch nicht zu ängstigen schien.

Die Luft um sie herum schien aufgeladen, wie vor einem Gewitter. Es gab kein Zurück mehr. Der Moment der Entscheidung war gekommen. Mit wildem Schrei stürzte sich Zis auf Saramo. Der massige Körper schnellte auf den kleinen Teniden zu. Einige der Drachen schrien auf. Plötzlich durchfuhr ein Feuerblitz die Luft. Im Sprung getroffen, fiel Zis auf den Boden. Kleine weiße Rauchschwaden stiegen von seinen Schuppen empor. Er wimmerte vor Schmerzen, während seine Bande verblüfft um ihn herumstand. Alle hatten sie gesehen, woher der Feuerstrahl gekommen war und starrten Saramo voller Angst an. Niemand sagte ein Wort. Nur das leise Stöhnen des Getroffenen unterbrach die erdrückende Stille. Saramo selbst war nicht minder überrascht, über das, was geschehen war. Er hatte bisher immer etwas Zeit benötigt, bis sein Feuer bereit gewesen war. Dieser Feuerstrahl war unbewusst entstanden; ein Reflex.

Er gewann als erster die Fassung wieder, begriff, er hatte gerade seinen Schwur gebrochen, das Geheimnis preisgegeben. Die Orlonen wussten nun, dass er Feuer speien konnte. Sie würden versuchen, ihn zu töten.

Gewalt ist immer der schlechteste Weg“, hörte er die Stimme des Großvaters sagen.

Flucht!“, durchzuckte ihn ein Gedanke. Er musste so schnell wie möglich fliehen. Die anderen standen noch immer wie erstarrt. Ohne die Orlonen aus den Augen zu lassen, zog sich Saramo langsam zurück. Voller Angst bewegte sich keiner der anderen Drachen. Niemand wagte es, ihn aufzuhalten. Der Schreck, des eben erlebten beherrschte sie alle.

 Kapitel II - Die Flucht nach Quechach

Als Saramo das Wäldchen hinter sich gelassen hatte, rannte er so schnell er konnte zum Haus seines Großvaters. 

Außer Atem berichtete er ihm, was geschehen war. Der alte Drachen war nicht sehr überrascht.

 “Das musste eines Tages passieren“, sagte er und nahm beruhigend Saramos Pfote in die seine.

 “Wie auch immer, du musst das Land verlassen. Vermutlich wird schon bald jemand die orlonischen Soldaten informieren.“

Ich habe keine Ahnung, wie ich das Land verlassen soll, ohne dass sie mich fangen.“

Saramos Stimme klang verzweifelt. Langsam wurde ihm die Bedeutung seiner Tat bewusst. Er war nun ein bekannter Feind der Orlonen und als solcher in großer Gefahr. Nervös verkrampften sich die Krallen seiner Pfoten ineinander. Für einen Moment fühlte sich Saramo hilf- und ratlos wie ein kleines Drachenkind.

Beruhige dich. Wer die Macht über das Feuer hat, setzt es auch eines Tages ein. Ich habe diesen Tag erwartet. Es ist für alles gesorgt.“

Aber der Schwur“, stammelte Saramo. “Sollte diesen Tag möglichst lange hinauszögern“, ergänzte der alte Tenide beruhigend.

Saramo schaute erstaunt. In Gedanken hatte er sich bereits in Ketten gesehen. Nun gaben ihm die Worte des Großvaters neue Hoffnung und Mut.

Tatsächlich war der alte Drachen in weiser Voraussicht bereits kurz nachdem siemit den Übungen zum Feuerspeien begonnen hatten, zu einer alten Bekannten gegangen und hatte mit ihr beraten, was an jenem Tag zu tun sei. Kora war ein alter Flugdrachen. Die Orlonen hatten auch ihr Volk unterworfen und zu Sklaven gemacht, auf denen sie durch die Luft ritten. Für wenig Essen und kalte, nasse Höhlen, in denen sie leben durften, mussten sie die Orlonen auf ganz Alpaku umher fliegen. Kora selbst war zu alt für das Fliegen mit den schweren Orlonen. Der außergewöhnlichen Güte eines alten Orlonen hatte sie es zu  verdanken, dass sie in einer verlassenen Berghöhle in der Nähe Pulsas leben durfte. Üblicherweise hatten die alten Flugdrachen kein Zuhause und starben ihrem Schicksal überlassen unter freiem Himmel einen kläglichen Tod. Zu ihren wenigen Freunden gehörte Saramos Großvater. Vor vielen Jahren hatte er bei einer seiner Wanderungen zufällig Koras Höhle entdeckt. Sie waren ins Gespräch gekommen und daraus war eine lange Freundschaft entstanden. Seither gehörten seine Besuche zu den wenigen Abwechslungen in dem einsamen Leben Koras.

Saramos Großvater hatte sie an jenem Tag in ihrer Höhle aufgesucht. Nachdem er ihr, wie jedes Mal die Neuigkeiten aus dem Dorf Pulsa berichtet hatte, war er mit ernster Stimme fortgefahren und hatte sie gefragt, ob sie bereit sei, einem guten Freund von ihm zu helfen.

Kora kannte ihn schon zu lange, um nicht zu bemerken, dass er ihr etwas verheimlichte. Aber sie vertraute ihm und erkundigte sich nicht weiter, sondern fragte nur, wann und wohin sie seinen Freund fliegen sollte. Damals hatte Saramos Großvater geantwortet:

Ich sehe, ich habe mich in dir nicht getäuscht. Um ehrlich zu sein, ist er noch nicht in Not. Aber ich bin sicher, er wird es irgendwann einmal sein. Können wir dann noch immer mit deiner Hilfe rechnen?“

Willst du mich beleidigen?“, hatte Kora entgegnet.

Nachdem er sich soweit ihrer Hilfe versichert hatte, beratschlagten sie, wie eine Flucht am besten gelingen könnte. Als einziges Land für eine Flucht kam nur Quechach in Frage. Das Gift seiner Bewohner hatte bis jetzt einen Angriff der Orlonen verhindert. So war alles schon seit längerem für Saramos Flucht vorbereitet gewesen.

Wohin gehen wir?“, wollte Saramo wissen.

Zu einer alten Freundin von mir. Sie ist ein Flugdrachen und wird dich nach Quechach bringen.“

Quechach“, murmelte Saramo, “aber das liegt ja viele Tagesreisen von hier. Ich muss vorher unbedingt mit Vater und Mutter sprechen.“

Ich fürchte, dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Vergiss nicht, dass sich die Kunde von einem Teniden, der Feuerspeien kann, wie ein Feuer im Strohfeld ausbreiten wird. Ich werde deinen Eltern berichten, was geschehen ist.“

Saramo nickte. Bestimmt hatte Großvater recht. Was würden sie bloß sagen, wenn Großvater ihnen die ganze Geschichte erzählte? Mama würde es sicher am ärgsten treffen. In Gedanken versunken bemerkte er nicht, wie der alte Tenide eine Tasche mit Spogablättern packte.

Komm jetzt Saramo, wir müssen gehen.“

Erschrocken fuhr Saramo auf. “Was…? Ach ja natürlich.“

Schweigend machten sie sich auf den Weg zu Koras Höhle. Mit schnellen Schritten und glücklicherweise, ohne entdeckt zu werden, ließen sie das Dorf hinter sich. Schon bald hatten sie den großen Wald erreicht und kamen wenig später an den Resten des verbrannten Baumes vorbei, den Saramo bei seinen Übungen in Brand gesetzt hatte. Die Luft im Wald war trotz der trockenen Zeit angenehm feucht und so hatte sich bereits eine zarte Moosschicht über dem toten Holz gebildet.

Als Saramo dort einen Moment stehenbleiben wollte, drängte ihn der alte Tenide, weiter zu gehen.

Nach einer Stunde erreichten sie die Berge. Von nun an ging es steil bergan. Saramo bewunderte die Ausdauer seines Großvaters, der scheinbar mühelos den steilen Weg hinaufging. Endlich standen sie vor dem Eingang einer großen Höhle.

Nun ist der Tag doch noch gekommen“, begrüßte sie Kora, die als sie Saramo erblickt hatte, sofort wusste, um was es ging.

Guten Tag Kora“, grüßte Saramos Großvater zurück. “Ja heute ist es soweit. Darf ich vorstellen. Das ist Kora. Kora, das ist Saramo, mein Enkel und dein Fluggast.“

Mit wenigen Worten machten sie sich einander bekannt. Saramos Großvater drängte auf den Abflug und wollte sich gleich von Saramo verabschieden. Doch Kora meinte, es sei besser, nach Sonnenuntergang zu fliegen, um nicht entdeckt zu werden. Hier in den Bergen waren sie sicher und konnten in Ruhe abwarten, bis der Tage zu Ende ging. Um sich das Warten etwas zu verkürzen, bat Kora den alten Teniden zu erzählen, warum Saramo fliehen musste. Sogleich war der alte Geschichtenerzähler wieder in seinem Element. Selbst Saramo, der Held dieser Geschichte hörte gespannt und bewegt zu, wie der alte Drache wiedergab, was er selbst ihm erst vor wenigen Stunden erzählt hatte. Kora hing mit ihren Blicken an den Lippen des Erzählers und stieß an Stellen, die sie besonders beeindruckten spitze Schreie aus. Besonders zu gefallen, schien ihr die Schilderung des Kampfes mit Zis. Hier konnte sie mit ihren schrillen Ausrufen gar nicht mehr aufhören und Saramos Großvater musste in seinen Ausführungen innehalten bis sie sich wieder beruhigt hatte. Als die Geschichte zu Ende war, verschwand gerade die Sonne hinter den Bergen und tauchte den Horizont in glühendes Rot.

Es wird Zeit, Abschied zu nehmen“, meinte Saramos Großvater. Die melancholische Stimmung der untergehenden Sonne machte ihn noch trauriger. Saramo war tief bewegt. Während der lebhaften Erzählung hatte auch er alles um sich herum vergessen. Nun im roten Licht des vergehenden Tages hatte ihn die Wirklichkeit wieder zurück geholt. Es schnürte ihm die Kehle zu.

Ohne ein Wort zu sagen, mit Tränen in den Augen umarmte und küsste er den geliebten Großvater, dessen kleine Flügel er zum ersten Mal traurig nach unten hängen sah. Wie lange würden sie sich nicht sehen?

Auch Kora war betrübt. Sie hüstelte laut. Die beiden lösten ihre Umarmung. Mit Mühe hielt Saramos Großvater die Tränen zurück, als er sich zu ihr wandte.

Danke, ich werde dir das nie vergessen. Es ist schön, in den Stunden der Not wahre Freunde zu haben.“ Bei diesen Worten umarmte er die alte Drachendame, die an solche Zärtlichkeiten schon lange nicht mehr gewohnt, etwas steif die Geste erwiderte.

Also, dann gehen wir jetzt zur Wiese. Hab keine Angst, es wird schon gehen“, beruhigte Kora ihren Passagier, dessen kleine Flügelstummel vor Aufregung zitterten.

Du musst dich nur gut festhalten besonders bei der Landung.“

Sie standen nun am Rand der Bergweide. Mit ihrer Schnauze witterte Kora den Wind und entschied sich hangabwärts zu starten. So liefen sie noch ein Stück den Berg hinauf bis sie das Ende der Grasfläche erreicht hatten. Kora kniete nieder und erleichterte Saramo so, auf ihrem Rücken Platz zu nehmen. Saramos Großvater drückte seinem Enkel noch einmal die Pfote und übergab ihmdie Tasche, die er zuvor gepackt hatte.

Hier nimm das mit. Es ist etwas zu essen und ein Brief, den ich schon vor langer Zeit geschrieben habe für diesen Augenblick. Lies ihn bitte erst in Quechach. Und pass gut auf dich auf.“

Auf Wiedersehen Großvater, danke für alles.“

Kora hüstelte erneut. Saramos Großvater ging an den Rand der Wiese und wartete winkend auf den Start.

Vorsicht, es geht los. Halt dich gut fest und fall mir nicht herunter.“

Kora begann langsam ihre großen Flügel zu schlagen. Immer schneller gingen sie auf und ab. Nun begann sie zu laufen und gewann an Geschwindigkeit. Das Rauschen der bewegten Luft schwoll an. Saramo fühlte den Wind in seinem Gesicht, mit jeder Sekunde blies er stärker. Der Lauf des Flugdrachens ließ ihn von einer Seite zu anderen schwanken. Um nicht zu fallen, musste er sich in Koras Rückenschuppen krallen. Plötzlich ließ das Schaukeln nach. Sie flogen. Schnell gewannen sie an Höhe. Saramo schaute zurück. Im Dunkel der hereinbrechenden Nacht war die Gestalt des Großvaters nur noch zu vermuten. Er ahnte nicht, dass er ihn das letzte Mal lebend gesehen hatte.

Kapitel III - Gleichgültigkeit

Der kühle Nachtwind brauste ihnen entgegen. Schweigend genoss es Saramo, zu fliegen. Als kleiner Junge hatte er oft auf dem Spogafeld gestanden und den Vögeln zugeschaut. Damals wollte er wissen, wie die Landschaft um ihn herum aus ihrer Höhe aussah. Jetzt sah er nur graue Schatten, die Sturmwolken gleich unter ihnen dahin schossen. Noch nie hatte sich Saramo so schnell bewegt. Insgeheim bedauerte er es, dass die Dunkelheit so vieles vor seinen Blicken verbarg. Sie flogen die ganze Nacht hindurch. Saramo wurde müde und seine Augenlider schwer. Aber er musste sich festhalten.
Endlich schimmerte am Horizont ein schmaler Streifen Licht. Der nächste Tag begann.
Kora drehte sich zu ihm um und rief Saramo etwas zu. Doch er verstand nicht, zu laut war das Rauschen des Windes. Noch einmal versuchte es Kora, diesmal schrie sie so laut sie konnte:
“Wir sind jetzt über Quechach und landen bald. Halt dich gut fest.“
Saramo nickte ihr zu. Es kostete ihn viel Mühe, der Angst, die ihn plötzlich befiel, standzuhalten. Mit bangem Blick schaute er nach unten.
In weiten Kreisen verloren sie an Höhe. Koras Körper neigte sich zur Seite. Saramo fühlte ein flaues Gefühl in seinem Bauch. Seine Krallen verkrampften sich in Koras Rückenschuppen. Die Wipfel der höchsten Bäume waren nun deutlich zu erkennen. Kora beendete ihre Kreise. Sie stellte die Flügel gegen den Wind, was den schnellen Flug jäh abbremste. Saramos Körper wurde plötzlich nach vorn geschoben.
“Aufgepasst!“, rief ihm Kora noch einmal zu und setzte zur Landung an. Saramo sah nun eine kleine Lichtung vor ihnen liegen. Die Baumwipfel rasten kurz unter Koras Füßen dahin. Kora stellte die Flügel noch mehr gegen den Wind und sackte nach unten. Die Lichtung lag nun unter ihnen. Einen Augenblick später berührten Koras Füße die Wiese. Unmittelbar setzte das Schaukeln wieder ein. Saramo hielt sich krampfhaft fest. Als er wieder aufblickte, sah er, wie sie auf das Ende der Lichtung zuschossen. Sie waren viel zu schnell.
Das schnelle Auslaufen nicht mehr gewöhnt, stolperte Kora mehr als einmal und drohte zu stürzen. Dabei wurde Saramo auf ihrem Rücken hin und her geworfen. Sie begann zu schwitzen und Saramos Krallen fanden immer schwerer Halt.
Das Ende der Lichtung war nun fast erreicht, die Silhouetten der Bäume deutlich zu sehen. Plötzlich bäumte Kora ihren ganzen Körper auf und stemmte die Krallen in den Boden. Der Ruck war so gewaltig, dass Saramo gegen ihren Hals geschleudert wurde und seitlich herabrutschte. Irgendwie gelang es ihm sich in Koras Flanke festzukrallen. Er musste Beine und Schwanz anziehen, um nicht über den Boden geschleift zu werden. Wenig später kamen sie zum Stehen - nur einen Steinwurf vom Ende der Lichtung entfernt.
“Bist du noch da?“, fragte Kora mit ängstlicher Stimme, noch immer aufrecht stehend.
“Ja, es ist alles in Ordnung“, entgegnete Saramo benommen.
Ohne seine Antwort abzuwarten hatte sie sich erschöpft und am Ende ihrer Kräfte ins Gras gelegt. Saramo lockerte seine verkrampften Krallen und ließ sich kraftlos auf die feuchte Morgenwiese gleiten.
“Es tut mir leid. Ich habe unsere Geschwindigkeit etwas unterschätzt“, schnaufte Kora entschuldigend.
“Schon gut“, sagte Saramo und rieb sich den schmerzenden Hals. Die Spuren ihrer Landung waren unübersehbar. Koras Krallen hatten einen tiefen Graben gezogen.
Langsam wich der Schreck von ihnen. Ihr Atem wurde ruhiger.
“Komm, wir suchen uns erst mal einen Platz zum Schlafen. Ich bin todmüde“, sagte Kora, erhob sich umständlich, nahm Saramo bei der Pfote und führte ihn in den Wald. Sie kannte die Gegend von ihrer Zeit als Flugdrache. Schon bald hatten sie eine windgeschützte Mulde erreicht. Mühsam, mit schleppenden Bewegungen suchten sie etwas Laub und Moos zusammen, bereiteten sich ein Lager und fielen sogleich in tiefen Schlaf.
Am Mittag wurde Saramo von den Strahlen der Sonne geweckt. Neben ihm lag Kora, noch im Schatten der Bäume.
Nun war er also in Quechach. Der Wald schien sich in nichts von den Wäldern Orloniens zu unterscheiden. Er war etwas enttäuscht darüber, keine fremden, exotischen Pflanzen und Tiere zu sehen. Das Beruhigende der vertrauten Landschaft nahm er nur unbewusst war. Kora streckte sich neben ihm und seufzte:
“Was bin ich noch müde.“
“Dann schlaf doch noch ein wenig.“
“Die Sonne steht schon im Zenit. Es ist Zeit aufzustehen. Außerdem habe ich Hunger; du etwa nicht?“
Plötzlich spürte auch Saramo den Hunger. Die Aufregungen des letzten Tages hatten ihn jeden Gedanken an Essen völlig vergessen lassen. Er nickte zustimmend.
“Also dann lass uns in ein Gasthaus gehen. Ich kenne eines nicht weit von hier.“ Kora stand auf und streckte ihren riesigen Körper noch einmal ächzend.
Sie machten sich auf den Weg und fanden schon bald darauf das Gasthaus. Der Eingang war sehr niedrig gebaut, wie überhaupt das ganze Haus wesentlich kleiner war als die Häuser in Orlonien. Beim Eintreten musste Saramo den Kopf einziehen. Kora kniete nieder, um ihm auf allen Vieren kriechend zu folgen.
Plötzlich zuckte Saramo zurück und stieß dabei mit seinem Rücken gegen Koras Schnauze .
“Was soll das?“, fauchte Kora.
“Entschuldige, ich hab´ mich so erschrocken. Die sehen so ...“, stammelte Saramo, dem die Hässlichkeit der Quechachs Angst einflößte.
“Sei still und lass dir nur nichts anmerken!“
Kora schob Saramo vor sich her in die Gaststube. Saramo schaute verkrampft zu Boden. Erst nach einer Weile hob er vorsichtig den Kopf und zuckte wieder zusammen, als er die Quechachs zum zweiten Mal sah.
Bei ihrem Eintreten hatten die anwesenden Quechachs nur kurz aufgeschaut und sich dann wieder den Gesprächen mit ihren Tischgenossen zugewandt. Flugdrachen und Teniden schienen hier nicht ungewöhnlich zu sein.
Das Äußere der Quechachs sah wirklich zum Fürchten aus. Von kleiner Statur, waren ihre Köpfe doch so groß, wie die der Orlonen. Es lag etwas Bedrohliches in dem Gegensatz der kleinen Gestalt zu dem riesigen Kopf. Hinzu kam die große Giftdrüse, der sie ihr Leben in Freiheit verdankten. Diese Drüse befand sich in der Mitte ihrer Stirn direkt über den Augen. Sie sah eigentlich mehr aus wie ein Geschwür und verstärkte ihre Hässlichkeit noch. Saramo schauderte etwas bei dem Gedanken, von nun an unter ihnen leben zu müssen.
“Sie sind nicht so schlimm, wie sie wirken“, flüsterte Kora, die Saramos Gedanken erraten hatte.
“Aber sie sehen so schrecklich aus“, flüsterte Saramo, wobei er sich im Gasthaus umschaute.
“Schau nicht so auffällig“, ermahnte ihn Kora.
Glücklicherweise war die Decke der Gaststube höher, als es der niedrige Eingang hatte vermuten lassen. Kora konnte, wenn auch nicht wie Saramo auf einem Sitzstein, so doch wenigstens auf dem Boden bequem sitzen. Saramo saß ihr gegenüber an dem für sie viel zu niedrigen Tisch.
“Die Quechachs sind ein sehr friedliebendes Volk. Nur ihre Köpfe sind gefährlich. Die Drüse, die du auf ihrer Stirn siehst, enthält eines der gefährlichsten Gifte, das es gibt. Es tötet nicht direkt. Es lässt sein Opfer nur alles vergessen. Zuerst vergisst du, wie du heißt, wer du bist. Schließlich geht die Wirkung weiter. Du vergisst alles, was für dich lebensnotwendig ist: das Essen, das Trinken. Am Ende verhungerst oder verdurstest du. Es gibt keine Hilfe. Auch ständiges Erinnern nützt nichts. Sofort ist alles Gesagte wieder vergessen“, erzählte Kora fort.
Saramo graute bei dem Gedanken an die Folgen des Giftes.
“Wenn sie so gefährlich sind. Warum schickte mich Großvater hierher?“
“Sie sind sehr friedliebend. Du brauchst wirklich keine Angst vor ihnen zu haben“, versuchte Kora die Ängste des jungen Tenidendrachen zu zerstreuen.
“Außerdem ist Quechach das einzige Land, in dem dir die Orlonen nichts anhaben können.“
Der Wirt nahte und sie unterbrachen das Gespräch. In der fremd klingenden Sprache der Quechachs fragte er nach den Wünschen seiner Gäste. Die weitgereiste Kora bestellte zu essen und zu trinken.
Saramo hatte das Gesicht des Quechach genau betrachtet. Die Mimik, mit der er gesprochen hatte, verlieh ihm einen sonderbar angenehmen Ausdruck. Saramo war überrascht, dass ein so hässliches Äußeres eine angenehme Ausstrahlung haben konnte. Er nahm dies als gutes Zeichen und wartete voller Ungeduld auf das Essen. Kora hielt es für angebracht ihn zuvor zu unterrichten:
“Das Essen in Quechach sieht oft sehr eigenartig aus. Es schmeckt aber wirklich gut.“
So war es denn auch. Das Essen sah nicht nur widerlich aus, es verströmte auch einen eigenartigen Geruch.
“Nur Mut, du wirst sehen, es schmeckt gut“, ermunterte ihn Kora, die Saramos fragenden Blick bemerkt hatte. Das Essen war fremd für den an Spoga gewöhnten Teniden, doch nach ein paar Bissen fand er an dem neuen Geschmack Gefallen. Kora hatte recht, das Essen schmeckte vorzüglich.
“Was wirst du jetzt tun?“, wollte Kora wissen.
“Nun, ich werde mir hier eine Arbeit suchen und davon leben.“
“An was für eine Arbeit hast du gedacht? Vielleicht kann uns der Wirt helfen.“
“Auf einem Bauernhof“, antwortete Saramo.
“Das scheint das einfachste zu sein. Die kleinen Quechachs sind sehr schwach. Du kannst leicht die Arbeit von dreien übernehmen“, stimmte Kora ihm zu und rief den Wirt herbei.
Als Kora ihn nach einem Bauernhof fragte, auf dem Saramo arbeiten könnte, leuchteten die Augen des Wirtes sonderbar. Das sei aber ein Zufall, meinte er, gerade vor ein paar Tagen hätte ihn ein Bauer nach einem Knecht gefragt. Kora übersetzte und fragte den Wirt, wo der Hof des Bauern sich denn befände. Das sei nicht leicht zu erklären, meinte darauf der Quechach und erbot sich Saramo am nächsten Morgen selbst dorthin zu führen.
Freudig überrascht von der außergewöhnlichen Hilfsbereitschaft des Wirtes, bestellten sie noch etwas zu trinken und beschlossen die Nacht in dem Gasthof zu verbringen.
Sie verbrachten den Rest des Tages in dem gemütlichen Wirtshaus. Gegend Abend nahmen sie ein Nachtmahl zu sich. Als die Kerzen auf den Tischen heruntergebrannt waren, führte sie der Wirt zu einem Zimmer unter dem Dach. Darin standen zwei einfache Nachtlager und ein Tisch. Die Decke war sehr niedrig; Kora konnte sich nur liegend darin aufhalten. Auch Saramo musste aufpassen, sich nicht den Kopf zu stoßen. Die Nachtlager für Quechachs gedacht, waren viel zu klein. So breiteten sie die Matten auf dem Boden aus und legten sich dort schlafen.
Müde schloss Saramo die Augen, doch er konnte nicht einschlafen. Zu viele neue Eindrücke beschäftigten seine Gedanken. Morgen würde Kora nach Hause fliegen, während er allein in Quechach zurückbleiben musste.
- ALLEIN - Die ganze Macht des Wortes traf ihn ins Herz. Wie es jetzt wohl den Eltern ging? Vor allem Mutter, die die Trennung sicher am meisten schmerzte?
Seit dem Streit mit Zis hatte es keinen Moment des Nachdenkens gegeben und jetzt schien alles auf einmal über ihm hereinzubrechen. Saramo war zum Weinen zu Mute und er wusste noch nicht einmal, ob aus Trauer oder Wut. Alles schien so ohne Sinn. Der gemeine Zis, die Macht der Orlonen, das unterdrückte Tenida, sein Feuer, die Flucht nach Quechach. Alles große Dinge, auf die er keinen Einfluss zu haben schien und die doch plötzlich sein Leben bestimmten. Es war, als wäre er plötzlich in einen reißenden Fluss gefallen und kämpfte darum, nicht unterzugehen.
Verwirrt und unruhig fiel ihm plötzlich der Brief ein. Saramo stand noch einmal auf und entzündete die Kerze mit einem kleinen Strahl. Die Kontrolle über sein Feuer beruhigte ihn etwas. Er holte den Brief aus der geflochtenen Tasche und öffnete ihn. Kora schlief bereits fest. Im flackernden Licht der Kerze begann er zu lesen.

Lieber Saramo!
Du bist, wenn du diese Zeilen liest, auf dich allein gestellt. Leider bin ich zu alt, dich zu begleiten; so gern ich es täte. Was geschehen ist, war vorauszusehen. Nicht, weil auf dich oder auf mich kein Verlass war und wir unser Geheimnis nicht genug gehütet hätten. Es war deine Vorbestimmung.
Um meine Worte zu verstehen, will ich dir eine Sage erzählen, die ich dir bisher verschwiegen habe. Ich wollte in dir keine Hoffnungen wecken, bevor ich mir nicht sicher war, dass deren Erfüllung möglich ist. Dein Kampf gegen Zis ist vielleicht ein Zeichen. Lies nun die Sage des ältesten Buches unseres Volkes und urteile selbst.

Die sieben Feuer
Es begab sich nun vor langer Zeit; ein Tenide war allein in die Berge, um dort einen Paramosabaum zu fällen. Als er hierzu einen kleinen Baum ausgewählt hatte und mit dem Fällen beginnen wollte, hörte er plötzlich Stimmen, die ihm so hell und unwirklich erschienen, dass er erschrocken seine Arbeit unterbrach.
“Lass ab von unserem Baum!“
Als er sich umdrehte und niemanden sehen konnte, fragte er mit zitternder Stimme:
“Wer seid ihr?“
“Wir wollen Euch beschützen.“ hörte er ihre Antwort.
“Das Bäumchen wird deinem Volk helfen das große Unheil, das kommen wird, zu überwinden. Du darfst es nicht töten.“
“Was für ein großes Unheil, wovon redet ihr?“, wollte der Tenide wissen.
“So versprich uns, das Bäumchen zu verschonen.“
Der Tenide nickte.
“Höre denn. Es wird eine Zeit kommen, in der das Wasser, das euch sonst das Leben bringt, Tod und Verderben mit sich führen wird. Das Feuer der Teniden wird sterben. Trauer und Schmerz werden von da an die Begleiter deines Volkes sein, fremde Länder ihre Heimat, Knechtschaft und Sklaverei ihr Leben.
 Lange, sehr lange wird euer Feuer verloren sein, bis eines Tages fern von Tenida die Glut wieder aufglimmt und zur Flamme wird.
 Feuer und Wasser werden einander begegnen. Die Flammen werden sterben, doch die Glut wird weiterleben und von neuem zu Feuer werden. Siebenmal wird das Feuer auf das Wasser treffen. Siebenmal wird die Flamme neu entstehen stärker als zuvor. So wird das Feuer wieder nach Tenida kommen und das Unheil beenden.
 Mit diesen Worten verstummten die Stimmen für immer. Keinem Teniden war es seither vergönnt, sie wieder zu hören.
Das war die Sage der sieben Feuer der Teniden. Du verstehst, dass ich damals, als ich dein erstes Feuer sah, sofort an diese Sage dachte. Vielleicht ist dein Feuer das Aufglimmen der Glut nach der langen Zeit der Knechtschaft unseres Volkes und deine Flucht nach Quechach der Beginn, die Sage zu erfüllen. Vielleicht ist es aber nur eine alte Sage, die keine Bedeutung hat. Wie auch immer, ich wünsche dir alles Gute in Quechach und hoffe dich irgendwann wiederzusehen.
In Liebe dein Opa

Saramo las den Brief ein zweites Mal. Die Sage verfehlte ihre Wirkung nicht. Er begann zu grübeln. Sollte er es sein, der das Feuer wieder nach Tenida zurückbrachte? Was für ein Unsinn, widersprach er sich selbst. Sein Schicksal hätte seit Urzeiten vorbestimmt sein müssen. Wenn er aber doch das Feuer wiederbringen würde? Er empfand Stolz bei diesen Gedanken. Und verwarf sie sogleich wieder. Was hatte er bisher schon Großes vollbracht? Eine alte Sage - was hatte sie schon zu bedeuten?
Mit dem Brief hatte in seinem Innern ein Kampf begonnen, von dem er selbst noch kaum etwas ahnte. Stolz und Zweifel standen einander gegenüber. Endlich übermannte ihn der Schlaf und setzte dem fruchtlosen Grübeln ein Ende.
Am nächsten Morgen erwartete sie in der Gaststube ein gedeckter Tisch. Nach dem Frühstück, besprach Kora mit dem Wirt das weitere und bezahlte.
“Der Wirt wird dich zu dem Bauernhof führen. Wir müssen uns jetzt trennen“, sagte sie mit betrübter Stimme. Sie kannten sich noch nicht einmal einen Tag. Trotzdem spürten beide, dass ihnen der bevorstehende Abschied nicht leicht fallen würde. Mit dem Wirt gingen sie gemeinsam zu der Lichtung, auf der sie am Tag zuvor gelandet waren. Sie umarmten sich und Kora wünschte Saramo alles Gute, dann wandte sie sich hastig um. Saramo sollte ihre Tränen nicht sehen.
Kora hob die große Drachenschnauze und witterte, aus welcher Richtung der Wind kam. Gemächlich bewegte sich ihr großer Körper auf das Ende der Lichtung zu. Noch einmal winkte sie den beiden zu. Langsam bewegten sich ihre mächtigen Flügel auf und ab. Das Rauschen der Luft schwoll an. Saramo und dem Wirt blies jetzt ein kräftiger Wind entgegen. Kora setzte ihren massigen Körper in Bewegung. Immer schneller werdend, rannte sie über die Wiese. Sie kam den Bäumen bedrohlich nahe. Saramo glaubte schon, sie schaffe es nicht, als sie sich, wieder nur einen Steinwurf vom Ende der Lichtung entfernt, endlich in die Luft erhob. Für einen kurzen Moment war sie ihren Blicken entschwunden, um wenig später über den Wipfeln der Bäume wieder zu erscheinen. Kora flog zum Abschied noch eine Runde und lächelte ihnen zu.
Saramo schaute ihr lange hinterher. Ihr großer Körper verlor langsam seine Konturen in der Ferne bis er schließlich im Blau des anbrechenden Morgens verschwamm.
Der Wirt hatte geduldig gewartet, er schien Mitleid zu haben mit Saramo, der sich nun sehr allein fühlen musste. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu dem Bauern, bei dem Saramo nun leben und arbeiten sollte. Schweigend waren sie so eine Weile gelaufen, als ihnen eine Quechachfrau entgegenkam. Sie schien den Wirt etwas zu fragen. Nachdem sie angehalten hatten, entspann sich ein heftiges Gespräch, von dem Saramo kein Wort verstand. Die Stimmen wurden lauter und die Gesten wirkten aggressiv. Es schien um etwas wichtiges zu gehen, von dem die beiden grundsätzlich verschiedener Meinung waren. Im Laufe ihrer Diskussion blickte die Quechachfrau Saramo immer wieder an. Saramo wurde den Verdacht nicht los, dass es bei der Unterhaltung um ihn ging.
Der Wirt unterbrach den Streit, indem er sich barsch von ihr abwandte und Saramo mit Handzeichen zu verstehen gab, dass sie jetzt weitergehen würden.
Die Quechachfrau, durch die unhöfliche Geste noch wütender geworden, ging auf Saramo zu, packte ihn am Arm und hielt ihn fest.
“Nicht gehen.... Böser Zauber! Nicht gehen!“, rief sie verzweifelt mit den wenigen Worten, die sie in Saramos Sprache beherrschte.
Der Wirt ergriff ihren Arm und löste die Umklammerung, mit der sie Saramo festhielt. Mit einer Grobheit, die Saramo nicht von ihm erwartet hätte, packte er die Quechachfrau an den Schultern und stieß sie mit einem derben Stoß von sich. Vor Schmerz aufheulend strauchelte sie, stand wieder auf und lief schreiend davon.
Saramo hatte die ganze Szene verwundert beobachtet. Was ging hier vor? Die Worte der Quechach und die Brutalität seines Begleiters beunruhigten ihn. Der Wirt bemerkte Saramos Verwunderung. Er deutete mit seiner Hand gegen den Kopf und machte Saramo gestikulierend klar, dass die Quechachfrau nicht ganz bei Verstand sei.
Saramo nickte ihm zu und beruhigte sich etwas. Ohne weitere Zwischenfälle setzten sie ihren Weg fort und erreichten schließlich ihr Ziel.
Ein großes Tor bildete den Eingang, des von einer hohen steinernen Mauer umgebenen Bauernhofes. Der Wirt hob den eisernen Türklopfer und ließ ihn fallen. Hinter dem Tor hörten sie Schritte. Ein schwerer Riegel wurde zurück geschoben und das Tor öffnete sich. Saramo war überrascht. Ein Tenide in seinem Alter stand ihnen gegenüber. Ein schön geschmiedetes Amulett auf seiner Brust lenkte die Blicke auf sich.
“Guten Tag“, sagte er auf Tenidisch zu Saramo und in der Sprache der Quechach begrüßte er auch den Wirt. Mit einer einladenden Geste bat er sie einzutreten. Doch der Wirt schüttelte den Kopf und sagte etwas, das Saramo nicht verstand.
Der junge Tenide entschuldigte sich daraufhin bei Saramo für einen Moment und verschwand. Nicht lange und er erschien wieder mit einem kleinen Lederbeutel, den er dem Wirt überreichte.
Saramo verstand, ganz selbstlos hatte der Wirt ihm nicht geholfen. Etwas unzufrieden sich so in ihm getäuscht zu haben, verabschiedete er sich nur mit einem fast unmerklichen Kopfnicken und folgte dem Teniden ins Innere des Hofes.
Saramo war froh hier einen Teniden getroffen zu haben. Die Vorstellung auf dem Bauernhof zu arbeiten, ohne ein Wort der Quechachs zu verstehen, hatte ihn den ganzen Weg über beunruhigt.
Der junge Tenide wandte sich um :
“Ich heiße Salba und du?“
“Mein Name ist Saramo.“
“Ich werde dich Onix vorstellen, folge mir.“
Sie gingen über einen großen Hof und erreichten das Hauptgebäude. Nach einem langen Korridor betraten sie den Saal, wie Salba ihn nannte. Im Saal stand ein langer Tisch an dem zu beiden Seiten Drachen und Wesen aus ganz Alpaku versammelt waren.
Da gab es Otozis, Wesen aus Tetcul, Ogrugru, Hertronlu, auch Drachen, die von der anderen Seite des großen Wassers stammten, saßen hier und unterhielten sich laut lachend und scherzend. Am Kopf des Tisches etwas erhöht saß ein Quechach mit einem, selbst nach dem Empfinden seiner Landsleute, viel zu großen Kopf. Salba ging in die Mitte des Saales und sprach zu der Tischgesellschaft:
“Das ist Saramo, ein neues Mitglied unserer Bruderschaft.“
“Willkommen Saramo“, tönte es ihm einstimmig entgegen. Saramo, nicht daran gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen, spürte, wie seine Schuppen vor Verlegenheit vibrierten. Trotzdem durchströmte ihn ein angenehmes Gefühl, so freundlich empfangen zu werden. Er sah zu Onix, der ihm lächelnd, ohne ein Wort zu sagen, einen Platz neben Salba am Ende der Tafel zuwies. Er setzte sich und war froh, in der Fremde so schnell ein Heim gefunden zu haben.
“Was für ein Glück an diesem Feiertag zu euch zu kommen“, sagte er zu Salba.
“Wieso Feiertag, dies ist ein Tag, wie jeder andere auch.“ entgegnete Salba.
“Und wann wird gearbeitet?“, wollte Saramo überrascht wissen.
Onix, der die Frage gehört hatte, wiederholte sie laut vor allen: “Unser neuer Bruder will wissen, wann wir arbeiten.“
Hierauf erhob sich lautes Gelächter im Saal. Mit väterlichem Ton wandte er sich zu Saramo:
“Wir alle sind hier, um uns zu erholen. Arbeiten musst du bei uns nicht.“
Saramo überlegte, irgend etwas stimmte hier nicht. Vielleicht war alles nur ein Irrtum und man hielt ihn für einen zahlenden Gast, statt für einen Landarbeiter.
“Aber ich habe kein Geld. Ich bin hierher gekommen um zu arbeiten.“ Saramo war verunsichert.
“Sei unbesorgt“, beruhigte ihn Onix, “du musst dich um nichts kümmern. Du sollst dich hier nur wohl fühlen.“ Damit wandte sich Onix wieder scherzend einer Orlonin zu, die neben ihm saß. Auch die restliche Tischgesellschaft kümmerte sich nicht weiter um ihn. Salba meinte nur, er solle sich nicht den Kopf zerbrechen. Onix sei ein fürsorgender Gastgeber und es sei für alles gesorgt. Noch nicht ganz beruhigt, begann Saramo zu essen. Die Speisen waren köstlich. Auch das Getränk, das man ihm reichte mundete vorzüglich. Es war Muché, der gegorene Saft aus Blättern des Muchébaumes. Er machte die Sinne leicht und ließ jeden Argwohn vergessen. Die Sonne stand im Zenit als Saramo mit dem Essen fertig war. Bereits am Mittag hatte ihn der Muché so müde gemacht, dass ihn Salba auf sein Zimmer brachte.
Saramo bemerkte verblüfft, dass es nach der Größe eines Teniden eingerichtet war. Ihm fiel die unbequeme Nacht auf dem harten Boden des Wirtshauses ein. Onix hatte wirklich an alles gedacht. Der Tisch war hoch genug, das Bett nicht zu kurz. Müde und zufrieden ließ er sich darauf fallen. Er schlief bis zum nächsten Morgen. In seinen Träumen traf er die Quechachfrau. Sie wollte ihn vor irgend etwas warnen doch er schenkte ihren Worten keinen Glauben. Mit hässlichem Lachen entschwand sie wieder in das Reich der Träume und wartete dort, ihn immer wieder aufzusuchen.
Der Morgen brach an. Mit ihm begann Saramos neues Leben des Müßigganges. Ungezwungen und ohne Pflichten lebten die Gäste von Onix in den Tag hinein. Wie der Hausherr es versprochen hatte, mussten sie sich um nichts kümmern. Und obwohl die Tage in einem gleichförmigen Rhythmus verliefen, war ihnen Langeweile fremd.
Spät am Morgen kamen sie nach und nach in den großen Saal zum Frühstück. Die Feier der letzten Nacht steckte noch in ihren Gliedern. Einige von ihnen legten sich danach noch einmal zu Bett, andere vertrieben sich die Zeit bis zum Mittag mit den verschiedensten Spielen. Es gab nur die köstlichsten Speisen.
Nach einem ausgiebigen Nachtmahl spielten sie zum Tanz. Am Tisch kreiste der Muchékrug bis zum Morgen.
Zunächst war es Saramo schwer gefallen, sich an jenes neue Leben zu gewöhnen. Das laute Lachen und die dauernden Späße schienen ihm gekünstelt und übertrieben. In den ersten Tagen hatte er mit dem Gedanken gespielt, das eigenartige Haus wieder zu verlassen. Doch wohin hätte er gehen sollen? Der Sprache der Quechachs unkundig hätte er nur schwer eine neue Bleibe gefunden. So hatte er beschlossen, wenigstens so lange zu bleiben, bis er die Quechachs verstehen konnte.
Doch die Sprache der Quechachs wurde nur wenig gesprochen. Die verschiedene Herkunft der Gäste hatte vielmehr Ati zur Sprache in Onix´ Haus werden lassen. Ati war eine Mischung aller Sprachen des Kontinent Alpakus und wurde auch in Quechach gesprochen. Da sich seine Gedanken mit nichts anderem beschäftigen mussten, lernte er sie rasch. Schon bald konnte er sich mit allen unterhalten.
Er hätte Onix´ Haus nun verlassen können, wenn ihn der Reiz des süßen Lebens nicht bereits gefangen hätte. Ein Sommer war dahin gegangen, ohne dass sich Saramo der Zeit, die er nun schon bei Onix lebte, bewusst geworden wäre. Langsam hatte er Gefallen daran gefunden, morgens aufzustehen und den Tag mit Nichtstun zu verbringen. Ursprünglich hatte er noch daran gedacht, neben Ati noch ein, zwei andere Sprachen zu lernen. Onix´ Haus schien wie geschaffen dafür, Sprachen zu lernen. Doch seit Wochen hatte er sich nicht mehr weiter darum bemüht. Mit dem Feuerspeien erging es ihm nicht anders. Anfänglich war er noch häufig in den Wald gegangen und hatte dort geübt. Doch nach und nach waren die Zeiträume zwischen seinen Übungen immer länger geworden, bis er es schließlich ganz aufgegeben hatte. Warum sollte er sich anstrengen? Es war ja für alles gesorgt. Von Tag zu Tag entfernte er sich mehr von seinem alten Leben. Die neuen Ideen verdrängten seine bisherigen Gefühlen und einst vertraute Gedanken wurden ihm fremd.
Das Leben in Onix´ Haus hatte eine eigenartige Wirkung auf all seine Bewohner. Niemand konnte sich dem seltsamen Einfluss entziehen. Das Lachen und Scherzen war gekünstelt. Niemand schien dies zu bemerken. Ein Schleier von Gleichgültigkeit legte sich allmählich über alles. Es gab nichts Außergewöhnliches und trotzdem wurde es nie langweilig. Ständig war man auf der Suche nach neuen Spielen. Immer gab es etwas, das Saramo noch nicht gekannt hatte. Brennend vor Neugier lernte er es kennen und kannte er es, war es auch schon unwichtig geworden. Nichts fesselte seine Gedanken darüber hinaus. Wie einer Sucht gab er seinen Wünschen nach. Lange Zeit hatte er sich keine Gedanken mehr gemacht über das, was mit ihm und den anderen hier geschah. So schöpfte er auch keinen Argwohn in jener Nacht, in der er Zeuge seltsamer Vorgänge wurde.
Kurz vor Sonnenaufgang war er erwacht. Das Fest der vorangegangenen Nacht war nur wenige Stunden zuvor zu Ende gegangen. Die Quechachfrau mit ihren Warnungen hatte ihn wieder einmal, wie so oft in den letzten Wochen, in seinen Träumen heimgesucht. Ihr krächzendes Lachen wurde von Mal zu Mal lauter und hässlicher.
War es die Aufregung des Traumes oder der leise aber durchdringend hohe Gesang, der aus dem Saal zu ihm klang? Saramo konnte nicht mehr einschlafen.
Er beschloss nach der Ursache des Gesangs zu schauen und ging die breite Treppe hinunter in den großen Saal.
Ein grünlich schimmerndes Licht beleuchtete die hohen Wände. Hinter Onix´ Thron befand sich ein offener Kamin. Die Feuerstelle des Kamins war nach vorne geschoben. Darunter konnte Saramo die ersten Stufen einer geheimen Treppe sehen. Das grüne Licht und der immer noch anhaltende Gesang kamen aus der Tiefe, in die die Treppe führte. Neugierig geworden, ging Saramo darauf zu. Er war nur wenige Schritte gegangen, als der seltsame Singsang verstummte und mit ihm auch das grüne Licht an Stärke verlor. Saramo blieb unentschlossen stehen. Eine innere Stimme durchbrach den schweren Schleier der Gleichgültigkeit und riet ihm, sich zu verstecken. Im großen Saal stand eine Truhe aus schwerem Holz, in der sie sich bei ihren gemeinsamen Spielen oft zum Spaß versteckt hatten. Am Ende der Treppe waren Geräusche zu hören. Saramo lief zu der Truhe, stieg hinein und ließ den Deckel herunter. Durch einen Spalt beobachtete er, was geschah. Schwer atmend und mit erschöpftem Gesicht erschien Onix. Er schob den Kamin wieder an die Wand. Von der Treppe war nichts mehr zu sehen. In der Mitte des Saales blieb er stehen und schaute sich um. Onix glaubte die Anwesenheit eines anderen zu spüren. Saramo stockte der Atem. Nun glitt sein Blick über die Truhe und blieb daran haften. Saramo kam in Atemnot. Onix ging ein paar Schritte auf die Truhe zu, hielt dann aber immer noch keuchend in seiner Bewegung inne. Jeder Schritt kostete ihn viel Anstrengung und er schien bereits am Ende seiner Kräfte. Sein Argwohn wog ihm jedoch nicht schwer genug, sich zu der Truhe am anderen Ende des Saales zu bemühen. Er wandte sich wieder um und verließ keuchend den Saal.
Saramo atmete tief ein. Es dauerte eine Weile, bis der Schrecken überwunden war. Schließlich kletterte er leise aus der Truhe und ging nach oben in sein Zimmer. In seinem Bett dachte er über das Erlebte nach. Die Worte der Quechachfrau kamen ihm in den Sinn.
“Nicht gehen.... Böser Zauber!“, hatte sie gerufen. Ihre Warnung, das grüne Licht und der Gesang - gab es einen Zusammenhang?
Er erwachte am nächsten Tag. Die alles umfassende Gleichgültigkeit hatte ihren schweren Schleier wieder über seine Gedanken gelegt. Das Erlebnis der vergangenen Nacht war zwar nicht vergessen. Doch bis zum Morgen hatte es so an Bedeutung verloren, dass es sich nicht lohnte einen Gedanken daran zu verschwenden.
Saramo lebte also weiter in Onix´ Haus, als sei nichts geschehen. Er genoss die Vergnügungen, fühlte die unwahren Gefühle ohne Tiefe und dachte die leichten, unkomplizierten Gedanken. Er bemerkte nicht, wie im Laufe der Zeit alle Gäste, die ihn bei seinem Empfang in Onix´ Haus begrüßt hatten, verschwunden waren. Nur einmal war ihm aufgefallen, dass Salba nicht mehr an den Spielen teilnahm. Arglos hatte er Onix nach ihm gefragt.
“Alle kommen und gehen in meinem Haus, wie es ihnen beliebt. Hier ist nur ein Ort auf dem Weg zu eurem Glück. Auch du wirst uns irgendwann einmal verlassen.“ Saramo war mit der Antwort zufrieden, denn im Grunde war es ihm bereits schon wieder egal, wohin Salba gegangen war.
Ein paar Wochen später, sie spielten wie schon so oft Versteck im nahen Wald, kletterte Saramo auf einen Baum dessen Wurzeln sich am Rande einer Schlucht in den Fels krallten. Um nicht entdeckt zu werden, wollte er sich im Laub der Baumkrone verbergen. Immer höher stieg er hinauf. Er dachte nicht daran, dass er durch das gute Essen in Onix´ Haus dick und schwer geworden war. Der Baum ächzte und bog sich unter seinem Gewicht. Saramo beachtete es nicht. Sein Ziel war die Baumkrone. Erste Äste brachen unter ihm. Seine Hinterpfote verlor den Halt - fast wäre er gestürzt. Etwas beunruhigt klammerte er sich an den in dieser Höhe sehr dünnen Stamm. Eine Windböe kam auf. Hin und her schwankte die Spitze des Baumes und bog sich bedrohlich bis plötzlich unter lautem Splittern der Wipfel mit Saramo in die Schlucht fiel. Glücklicherweise war der Boden der Schlucht voller Hesasträucher, deren dichtes Geäst den Fall gedämpft hatten. So blieb Saramo bis auf ein paar Kratzer und eine Ohnmacht unverletzt.
In der Nacht kam er wieder zu sich. Die Kälte hatte ihn geweckt. Sein Kopf schmerzte. Seine Hilferufe verhallten ungehört.
Die anderen hatten schon nach kurzer Zeit die Suche nach ihm aufgegeben. Es hatte ihnen wenig Vergnügen bereitet, nach dem verschwundenen Saramo zu suchen. Die Gleichgültigkeit war auch bei ihnen bereits so stark, dass es sie nicht weiter kümmerte, was mit dem Teniden geschehen war. In Onix´ Haus wartete ein schönes Essen und andere, interessantere Spiele auf sie.
Saramo saß währenddessen in der Schlucht und fror. Hunger stellte sich langsam ein. Ohne jeden inneren Antrieb wartete er und übergab sich seinem Schicksal.
Die Zeit in Onix´ Haus hatte ihn zu einem verwöhnten, des Denkens nicht mehr fähigen Drachen werden lassen. Selbst die Kälte und der Hunger trieben ihn nicht dazu an, nachzudenken, was er tun könnte.
Er saß so die ganze Nacht und wartete. Die Sonne ging auf und mit ihr schwand die Kälte. Der Hunger blieb und quälte ihn immer mehr. Er wartete noch den ganzen Tag auf Hilfe und hielt es schließlich nicht mehr aus.
Geschwächt vom Hunger stand er auf und begann zu überlegen, wie er hier Nahrung finden konnte. Des Denkens entwöhnt fiel es ihm schwer, seine Gedanken zu fassen, sie in eine Richtung zu lenken. Mühsam gelang es ihm endlich sich zu konzentrieren und ihm fielen die Früchte wieder ein, die er als kleiner Drachen oft im Wald gesammelt hatte.
“Früchte!“, dachte er. “Ich muss Früchte finden.“ Suchend schaute er um sich. Verdutzt fand er die Hesasträucher rings umher. Er hatte einen Tag und eine Nacht inmitten der köstlichsten Früchte Hunger gelitten. Schnell griff er nach einem der Hesaäpfel und biss hinein. Er aß soviel er konnte. Satt geworden, setzte er sich wieder auf den Boden. In seinem Kopf regten sich lang verborgene Gedanken.
Was war aus ihm geworden? Was ging in Onix´ Haus vor? Was verursachte diese Gleichgültigkeit gegen alles? Wie konnte es geschehen, dass er inmitten der prallsten Hesaäpfel gehungert hatte?
Die Warnung der Quechach, das Erlebnis mit dem grünen Licht. Saramo begriff mit einem Mal, dass Onix böse war.
An diesem Abend beschloss Saramo für einige Zeit in der Schlucht zu bleiben um über sich selbst und Onix nachzudenken. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er wieder ein echtes Gefühl der Zuversicht in sich. Zufrieden schlief er ein.
Es kostete viel Anstrengung die unbändigen, ständig abschweifenden Gedanken zu zügeln. Immer wieder stieß er auf Erinnerungen, die ihn am Weiterdenken zu hindern schienen. Wie Wächter, die es zu bezwingen galt, standen sie vor Türen, hinter denen eine Antwort lag. Schritt für Schritt kämpfte er sich in Gedanken weiter. Schweißtropfen rannen von seiner Stirn, das Denken kostete ihn körperliche Kraft.
Er verbrachte fast einen Mond in der Schlucht. Neben seinen geistigen Übungen, begann er wieder mit dem Feuerspeien. War er am Ende zwar nur in der Lage das Feuer halb soweit zu speien, wie zur Zeit des Kampfes mit Zis, so erschien es ihm doch weit genug, sich auf den Weg zu machen, das Geheimnis von Onix zu ergründen.
Er verließ den Ort seiner wiedergefundenen Gedanken. Die Wände der Schlucht waren zu steil um erklommen zu werden. Er ging daher die Schlucht entlang in der Hoffnung bald einen Aufstieg zu finden. Er lief den ganzen Tag zwischen den steilen Felswänden. Bevor die Sonne unterging, begann er nach einem Unterschlupf für die Nacht zu suchen und entdeckte dabei schließlich den Eingang einer Höhle. Schon nach wenigen Schritten reichte das Licht der Dämmerung nicht mehr in die Höhle hinein. Einen kleinen Strahl zischend erleuchtete Saramo die Höhle mit seinem Feuer.
Vor Schreck stockte sein Atem. Die kleine Flamme erlosch und Saramo stand im Dunkeln. Als er sich wieder beruhigt hatte, spie er abermals eine kleine Flamme und beleuchtete die erschreckende Szene erneut.
Vor ihm lagen hunderte von Gerippen und Schädeln durcheinander verstreut am Boden. Er schauderte bei ihrem Anblick. Woran waren sie gestorben? Gab es giftige Dämpfe in der Höhle? Saramo wollte gerade die Höhle wieder verlassen, als sein Blick von metallischem Glitzern angezogen wurde. Was glitzerte da zwischen den Knochen? Eine eiserne Tasse oder ein Dolch? Die Neugier siegte über die Angst. Saramo ging auf den glänzenden Gegenstand zu. Es war ein Amulett. Die eigenwillige Form kam ihm seltsam bekannt vor. Irgendwo hatte er es schon einmal gesehen. Das Nachdenken fiel ihm immer noch schwer. Es war dies eine jener Erinnerungen, die ihm eigenartig verschlossen waren. Plötzlich dachte er an Salba. Es war sein Amulett. Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm hoch. Tatsächlich lag ein Tenidenschädel dort, wo er das Amulett gefunden hatte.
“Nicht gehen! Böser Zauber!“, mit der Gewalt eines Gewitters kamen Saramo die Worte der alten Quechachfrau in den Sinn. Sie war nicht verrückt gewesen.
Verzweifelt bemühte er sich nachzudenken, wann er Salba das letzte Mal gesehen hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern. Saramo bekam Angst. Was ging hier vor? Er spürte auch Furcht vor sich selbst. Was hatte Onix aus ihm gemacht, dass ihn kein anderer mehr interessiert hatte?
Waren alle Toten die ehemaligen Gäste von Onix? Saramo konnte es nicht fassen. Sollten das hier die Reste seiner Spielkameraden sein, mit denen er gelacht, gescherzt und Muché getrunken hatte. Hastig begann er zwischen den Knochen nach Spuren ihrer Herkunft zu suchen. Nicht lange und sein Verdacht war bestätigt. Bei wenigstens fünf der Toten war er sich sicher, sie zuvor als Gäste in Onix´ Haus gesehen zu haben. Saramo hörte auf, weiter zu suchen.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken bei dem Gedanken, dass nur der Sturz in die Schlucht ihn vor diesem Schicksal bewahrt hatte. Er musste weinen, zu nah ging ihm, was er gesehen hatte. Mit seiner Trauer vermischte sich Wut. Wut über den Mörder, der ihn selbst zu einer gleichgültigen Hülle hatte werden lassen. Er musste Onix´ Treiben ein Ende bereiten.
Saramo verließ die Höhle wieder, die ihm unheimlich wie ein Gruft geworden war. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und die Dunkelheit der Nacht machte die Suche nach einer anderen Unterkunft unmöglich. Er lief noch eine halbe Stunde. Die Nacht in der Nähe der Höhle zu verbringen, kam für ihn nicht in Frage. Auf einem weichen Moospolster legte er sich schließlich zur Ruhe.
Als der Morgen graute, erwachte Saramo. Kaum wahrnehmbar hörte er die seltsame Melodie, die ihn schon einmal geweckt hatte. Sofort war er hellwach. Er rannte zur Höhle zurück. Wie er vermutet hatte, kam der Gesang von hier. Vor der Höhle wartete er, bis sein Atem sich wieder beruhigt hatte. Vorsichtig schlich er in das Halbdunkel. Die Höhle mit seinem Feuer zu erleuchten, wagte er nicht . So tastete er sich behutsam in das Dunkel, darauf achtend mit seinen Krallen nicht gegen einen der Schädel zu stoßen oder mit seinem Schwanz irgendwo hängen zu bleiben und sich zu verraten. Langsam schlich er sich immer weiter voran. Der Singsang wurde lauter. Saramo bemerkte, dass die Steine unter seinen tastenden Pfoten bearbeitet waren. Er musste sich in einem Gang befinden. Der Gang machte nun eine Biegung. Saramo folgte ihm und sah an seinem Ende das grüne Licht. Onix konnte nun nicht mehr weit entfernt sein.
Jedes Geräusch vermeidend, ging Saramo bis zum Ende des Ganges. Vorsichtig beugte er sich nach vorn. Obwohl mit dem Schlimmsten rechnend, erschrak Saramo dennoch bei der gespenstischen Szene, die sich ihm bot.
In einem riesigen Kellergewölbe stand Onix mit einem Buch in seiner langen Quechachhand. Die Melodie singend schwang er die andere Hand über einem Ogrugru, den Saramo seit längerer Zeit kannte. Die Ogrugrus waren ein kämpferisches Volk und berühmt für ihre Intelligenz und Stärke, die man ihren kleinen schmächtigen Körpern nicht ansah.
Onix´ Opfer schien im Stehen zu schlafen und nicht zu bemerken, was um es herum geschah. Eine Art Nebel, die Quelle des grünen Lichtes bewegte sich um seinen Kopf. Der grüne Nebel begann sich zu bewegen. Pulsierend formte er sich zu einer fließenden Brücke zwischen dem Kopf des Ogrugru und dem Buch. Unfähig einzuschreiten beobachtete Saramo das Schauspiel. Der Nebel floss nun langsamer, wurde schwächer und hörte am Ende ganz auf zu fließen. Der Ogrugru sackte zusammen. Dies war keine Ohnmacht. Saramo spürte, hier konnte er nicht mehr helfen. Onix beendete den Gesang. Sein verkrampftes Gesicht entspannte sich.
Mit einem Ruck, als habe er Saramos Nähe plötzlich gespürt, drehte er sich um und schaute dem Teniden wütend in die Augen. Saramo stand regungslos da, das eben Erlebte noch immer nicht fassend.
“Saramo, du!“, schrie Onix mit schriller Stimme. “Deine Neugier wirst du mit dem Leben bezahlen.“
Endlich erholte sich Saramo von seinem Schreck und erwachte aus seiner Starre. Onix´ Arm zuckte und wie durch Zauberei schnellte ein Messer aus seinem Ärmel. Saramo duckte sich und die Klinge fuhr krachend in den Stein.
“Du bist schnell, Tenide. Doch gegen die Macht der Magie bist du nur ein kleiner Wurm, den ich zertreten werde.“
“Wir werden sehen, wer den Kampf gewinnen wird!“, schrie Saramo, den der Mut der Verzweiflung gepackt hatte und spie einen Feuerstrahl gegen Onix. Die Überraschung war gelungen. Vor Schreck und Schmerz warf Onix das Buch weit von sich. Verblüfft schaute er auf die verkohlten Reste seines Ärmels. Sein ängstlicher Blick glitt zu dem Buch. Saramo begriff, dass er mit dem Buch auch seine Macht verloren hatte. Sie stürzten beide darauf zu. Onix gelang es zuerst, das Buch in seine Hände zu bringen. Saramo wollte sich gerade mit einem Sprung auf ihn werfen, als er das Flüstern einer Zauberformel vernahm. Das Buch leuchtete grün und die Macht der Worte traf Saramo noch in der Luft. Er war plötzlich wie gelähmt, unfähig sich zu bewegen. Onix lachte höhnisch:
“Du glaubtest doch nicht wirklich, mich mit deinem simplen Feuerzauber besiegen zu können. Niemand kann das Buch besiegen. Es hat die Kraft vieler hundert Leben. Bald wird es auch deine Kraft in sich tragen. Du wirst sie ihm geben, wie der Ogrugru seine Kraft dem Buch schenkte. Genug, lass uns beginnen.“
Saramo hatte Todesangst. Zur Bewegungslosigkeit verdammt, war er Onix hilflos ausgeliefert. Der grüne Nebel sog die Lebenskraft aus seinen Opfern und ließ sie in das Buch fließen. Wie konnte er ihm nur widerstehen?
Onix begann zu singen, monoton erfüllte die Melodie das Gewölbe. Den sicheren Tod vor Augen dachte Saramo an seine Eltern und seinen Großvater. Ein Gedanke folgte dem anderen. Da war Zis, die Wiesen und Wälder um Pulsa, Koras großer Kopf, das Amulett von Salba. Gewalt ist immer der schlechteste Weg, vernahm er die Stimme seines Großvaters. Immer schneller wechselten die Bilder einander ab.
Er dachte gerade an die Sage, als er den grünen Nebel rings um sich her bemerkte. Jetzt ist es soweit, dachte er bei sich und fühlte plötzlich eine fatale Neugier.
“Was für ein Gefühl wird es sein, wenn mir der Nebel das Leben aussaugt?“
Saramo wartete lange, ohne die geringste Kraft zu spüren. Er sah Onix an. Dieser schien beunruhigt. Seine Stimme wurde immer lauter, der Gesang immer schriller. So laut hatte Onix bei seinem letzten Opfer nicht gesungen.
Saramo wurde allmählich bewusst, dass der grüne Nebel keine Macht über ihn hatte. Onix´ Gesicht hatte sich mittlerweile zur Fratze verzogen, das Lied war zum hysterischen Geschrei geworden.
“Die Flammen werden sterben, doch die Glut wird weiterleben und von neuem zu Feuer werden - stärker als zuvor“, schoss es Saramo durch den Kopf.
Seine Angst schwand und er begann zu verstehen. Seit fast einem Mond stand er nicht mehr im Bann der Gleichgültigkeit. Der Nebel konnte ihm nichts anhaben. Er versuchte sich zu bewegen, doch über seinen Körper hatte er noch nicht die Macht zurückbekommen. Wut stieg in ihm auf. Wut über die eigene Ohnmacht und über die Verbrechen von Onix. Saramo dachte an das Schicksal von Salba. Noch stärker entbrannte der Hass in ihm. Er musste Onix besiegen, schoss es ihm durch den Kopf. Der Nebel wurde größer, mit Saramos Wut wuchs er und erfasste die Hand des erschreckten Onix. Der Quechach wollte zurückweichen, doch das Buch blieb im Nebel und seine Hand ließ sich nicht mehr lösen. Verzweifelt schrie er die unterschiedlichsten Zaubersprüche, versuchte er durch seine Formeln den grünen Nebel wieder unter Kontrolle zu bringen. Es half nichts. Das Buch gehorchte der Kraft der stärksten Gedanken. Saramos Wut und seine wieder erlangte Kraft lenkten seine Macht. Der grüne Nebel umhüllte Onix. Sein Körper begann zu zittern. Immer dichter wurde das Grün. Todesangst stieg in ihm auf, sein Gesang verstummte. Der Nebel glühte, noch war der Widerstand seines Opfers zu groß. In einem Augenblick entlud sich die aufgehaltene Gewalt des Buches. Ein grüner Blitz schoss von Onix´ Kopf in das Buch. Kraftlos ließen seine Hände das Buch zu Boden fallen. Einen Moment stand er noch da mit ungläubig ins Leere starrenden Augen. Dann sank er leblos zu Boden.
Aber hierüber erzählt eine andere Geschichte mehr.
Saramos Starre löste sich. Benommen blieb er stehen und schaute auf den Toten. Behutsam hob er das Buch auf und ging langsam die Treppe nach oben. Wie erwartet, führte sie in den großen Saal. Im Haus schliefen noch alle. Die Vögel sangen, wie jeden Tag. Sie ahnten nicht, welches Drama sich vor wenigen Momenten unter der Erde abgespielt hatte.
Saramo setzte sich an den Kopf der leeren Tafel. Freude über den Sieg fühlte er nicht. Gewalt ist immer der schlechteste Weg und wieder war er ihn gegangen. Warum? fragte er sich. Dann sah er vor sich die Skelette aus der Höhle wieder. Vergeblich versuchte er an etwas anderes zu denken. Das Bild hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt.

Zur selben Zeit weit entfernt, siegte das Volk der Otoz gegen die Orlonen. Seit Generationen hatte es das Leben in Unterdrückung erduldet. In dieser Nacht hatten sich die Otoz selbst befreit und die Orlonen aus dem Land vertrieben. Aber hierüber erzählt eine andere Geschichte mehr.